Am Wege von Lauenstein nach Hemmendorf, wo sich einstmals die Burg der Grafen von Spiegelberg erhob, steht heute, umgeben von den Gräbern des Lauensteiner Friedhofs, die Spiegelberger Kapelle. Den ehemaligen Ort Spiegelberg gibt es längst nicht mehr. In den unruhigen Zeiten der Hildesheimer Stiftsfehde (1518-1521) verliessen die Bewohner ihre Häuser und siedelten sich auf dem Damm vor dem Flecken Lauenstein an. Dort fühlten sie sich im Schutze der Lauensteiner Burg sicherer.
Die kleine Spiegelberger Kapelle wird Sünt Annen genannt, weil sie vor Zeiten zu Ehren der heiligen Anna, der Mutter Marias, erbaut wurde. In diesem Gotteshaus sollen einst zahlreiche Wunder geschehen sein, wovon weit und breit erzählt wurde. Jahr für Jahr zogen unzählige Wallfahrer aus allen Gegenden Deutschlands zur wundertätigen Madonna auf dem Spiegelberge. Dies ist eine hölzerne Mutter-Gottes-Figur, die den Leichnam des Gekreuzigten auf ihrem Schosse trägt. Das schlichte knapp 30 cm hohe Standbild ist ein Beispiel geradezu das Heidnische streifender Bauernkunst.
Der Kopf dieser Marienfigur ist hohl und muss vor Zeiten mit einem vortrefflichen Balsam angefüllt gewesen sein, denn wenn man mit dem Finger in der Höhlung an dem Holz rieb, gab dieses auch später noch einen starken Geruch von sich.
Die Madonna war schön bekleidet, mit einer silbernen Krone geziert und mit Gaben ihrer Verehrer reichlich behängt. Im Laufe der Zeit nämlich war die Madonna vom Spiegelberge reich beschenkt worden. Drei vergoldete Silberkronen und etliche kleine Gold- und Silberkreuze, daneben silberne und goldene Kränze und Münzen zählten zu ihrem Schmuck, der insgesamt 83 Stück umfasste. Die Spiegelberger Hospitalfrauen verwahrten das Standbild, stellten es bei Ankunft von Pilgern in der Kapelle auf, nachdem sie es mit den Votivgaben ausgeziert hatten.
Vor allem zur Sommerzeit wallfahrteten viele Katholiken von hohem und niedriegem Stande dorthin. Sie kamen aus fernen Gegenden wie Münster und Paderborn; selbst der Fürst-Bischoff von Hildesheim besuchte auf seinen Reisen stets diesen Ort. Meistens liessen die Pilger ihre Fuhrwerke im Flecken Hemmendorf zurück und pilgerten von da aus mit entblössten Füssen die halbe Stunde Weges nach der Kapelle. Sie erhofften sich von einem andächtigen Gebet in Sünt Annen die verheissenen 100 Tage Ablass. Auch glaubten sie, durch das Gelübde einer Wallfahrt nach Spiegelberg, durch Geschenke für die Kapelle oder durch etliche Gebete in St. Annen unfehlbare Hilfe zu erlangen, und sei auch durch ein Wunder. Sogar eine deutsche Kaiserin, die Gemahlin Kaiser Karl VI., liess hier für sich beten und sandte nach der Geburt eines Prinzen aus Dankbarkeit 50 Dukaten. (Dem Kaiser Karl wurde tatsächlich ein Sohn geboren, der jedoch nach wenigen Monaten im Jahre 1716 starb.)
Es wurden früher in St. Annen viele Krücken aufbewahrt, die von geheilten Kranken stammten. Aber wohl kaum durch Gesundbeterei oder gar durch Wunder sind die Kranken genesen, sondern sie haben ihre Heilung dem Baden in einem Gesundbrunnen zu verdanken. Dieser lag dicht bei Spiegelberg in einer Senke auf dem Bruch und wurde der Süken-Diek oder Siechenteich genannt, aus dem später ein Fischteich wurde. In der nahegelegenen Kapelle haben die Leute dann Gott für die wiedererlangte Gesundheit gedankt und ihre Krücken dort abgelegt.
Für die Betreuung der Kranken soll auch das kleine Hospital neben St. Annen angelegt worden sein, das später ein Armenhaus wurde und von sechs alten Frauen aus Lauenstein und Marienau bewohnt war, denen die Betreuung der Kapelle oblag.
Auch noch lange nach der Reformation hielten die Wallfahrten an. Selbst einfache Protestanten kamen von nah und fern, um Geschenke dorthin zu bringen und von den Hospitalfrauen für sich beten zu lassen. Wundertätige Hilfe wurde der Madonna in Krankheitsfällen zugeschrieben und vornehmlich Frauen und werdende Mütter vertrauten sich ihr an. Ja, selbst für das Wohlergehen des Viehs liess man dort beten.
Als dann später der Aberglaube übel ausartete, katholische Messen insgesamt in der Kapelle gelesen wurden, ja sogar ein Hildesheimer Brautpaar sich dort heimlich trauen liess, wurde der Sache durch obrigkeitliche Verfügung ein Ende gemacht. Das Madonnenbild wurde nächtlicherweise nach Hannover gebracht, gelangte dort zunächst in das Reliquiengewölbe der Schlosskirche und später dann in das Landesmuseum. Hier in der Einsamkeit hat das Bild aufgehört Wunder zu wirken und mit ihm sind auch die Wallfahrten zur Spiegelberger Kapelle verschwunden. Die Spiegelberger Madonna befindet sich jetzt als Leihgabe im Museum Coppenbrügge.
Quelle: „Lauenstein – aus Sage und Geschichte“ von Ulrich Baum
Es gab mindestens 3 verschiedene Madonnen :
Auhagener Madonna :
Um 1400 hergestellt für das Kloster Auhagen, 1565 nach Spiegelberg gebracht, vor 1648 nach Hildesheim gebracht, 1761 verbrannt.
Spiegelberger Madonna :
1648 hergestellt für Spiegelberg, 1773 nach Hannover gebracht, 1945 in Pattensen verschwunden, 1986 wiederaufgetaucht und ins Museum Coppenbrügge gebracht.
Hildesheimer Madonna :
1761 für Kapuzinerkirche Hildesheim hergestellt, 1962 nach Lauenstein gebracht.
1150
Die Spiegelberger Kapelle wird laut Baubefund in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erbaut.
1310
Der Graf von Spiegelberg, jetzt Burgherr in Coppenbrügge, gründet in Auhagen / Marienau ein Karmeliterkloster.
1354
Um- oder Neubau der Spiegelberger Kapelle.
1400
Die ursprüngliche Madonna, von Hermann Engfer, dem Leiter des Hildesheimer Bistumsarchivs, als frühgotische Plastik bezeichnet, wird um 1400 hergestellt und wahrscheinlich im Kloster Auhagen aufgestellt.
1521
Die Siedlung Spiegelberg wird aufgegeben.
1543
Die Kirchenvisitation beschreibt die Kapelle als „desolat“.
1565
Das Kloster Auhagen wird aufgegeben. Dem Coppenbrügger Chronisten Vogell zufolge wird die Madonna nach Spiegelberg gebracht.
1588
Auch die 2. Kirchenvisistation beschreibt die Kapelle als „desolat“.
1594
Das Kloster Auhagen wird abgerissen.
1648
Pastor Weniger berichtet 1773, dass die Madonna seit dem Westfälischen Friedensschluss in diesem Jahr auf dem Altar in Spiegelberg gestanden hat. Diese ist wahrscheinlich eine derbbäuerliche Kopie der Auhagener Madonna, die wahrscheinlich zwischen 1565 und 1648 nach Hildesheim gebracht wurde.
1744
Der Chronist Baring bestätigt das Vorhandensein von Krücken in der Kapelle.
1761
Bei einem Brand in der Hildesheimer Kapuzinerkirche wird eine Madonna zerstört. Dies könnte die alte Madonna aus dem Auhagen Kloster gewesen sein. Nach dem Brand wird eine neue Figur angefertigt mit der Sockelinschrift „Wahre abbildung des gnaden Bilds der allerseligsten Mutter Gottes Maria in der Capell am spiegel Berg bey Lauenstein“.
1766
Der Amtmann Rautenberg berichtet der Hannoverschen Regierung über die Ausuferung des Aberglaubens in der Spiegelberger Kapelle.
1773
Auf Anordnung der Regierung wird die Spiegelberger Madonna von Lauensteiner Beamten heimlich in das Reliquiengewölbe der Hannoveraner Schlosskirche gebracht.
1886
Die Spiegelberger Madonna mitsamt den Votivgaben wird in den Bestand des Landesmuseums Hannover aufgenommen.
1945
Um die Madonna vor Bombardierungen und Bränden zu schützen, wird sie aus dem Landesmuseum ausgelagert, vermutlich nach Pattensen. In den Kriegswirren geht die Figur verloren.
1962
Die Madonna aus der Kapuzinerkirche wird restauriert und der neugegründeten katholischen Pfarrgemeinde in Lauenstein übergeben. Heute steht die Figur daher in der „St. Benedikt“ Kirche.
1985
Die verloren geglaubte Spiegelberger Madonna wird von Dr. Humburg im Magazin des Landesmuseums Hannover wieder gefunden während das Coppenbrügger Heimatmuseum eingerichtet wird (Gründung des Museumsvereins Coppenbrügge e.V. war am 9.3.1982).
1986
Die Madonna wird restauriert und als Dauerleihgabe an das Coppenbrügger Museum übergeben. Dort wird sie seitdem in einer Glasvitrine mitsamt Votivgaben ausgestellt. Pilger kommen heute nicht mehr.